Verstümmelte Musik: wie Dynamikkompression und Datenreduktion die Musik verändern
Neil Young will mit seinem Pono Projekt* der Musik die Seele zurückgeben „bring back the soul of music“. Hochauflösende Audio-Formate sind das Vehikel mit dem er dieses Ziel erreichen will. Für ihn ist das CD Format ein ungenügendes Transportmittel und datenreduzierte Formate wie MP3, iTunes Downloads und Spotify Streaming sowieso. Neils Kampagne geht in die richtige Richtung. Doch dabei wird eines ausser Acht gelassen, dass wir heute seelenlose, verstümmelte Musikproduktionen vorgesetzt bekommen liegt nicht primär an den Dateiformaten und schon gar nicht am CD-Format. Das Übel bei neuen Produktionen, aber teilweise auch bei Remasters, liegt in der Dynamikkompression. Kommt dann noch Datenreduktion (MP3, iTunes, Spotify & Co) dazu, liegt das Ei endgültig zertrümmert am Boden.
Dynamikkompression wird seit einiger Zeit als Loudness War diskutiert und Gegenbewegungen wurden lanciert.
Was bedeutet und bewirkt Dynamikkompression?
Musik, egal welcher Stil oder welches Genre, besteht aus Grundelementen wie Tonart, Melodik, Harmonik, Rhythmus, Tempo und Dynamik. Unter Dynamik verstehen wir das Wechselspiel von laut und leise, das anschwellen oder reduzieren der Lautstärke innerhalb eines Musikstückes, das Hinzukommen oder Wegfallen von Instrumenten. Dynamik im Verbund mit Agogik, der Tempovariation, sind starke Gestaltungsmittel eines Komponisten, einer Interpreten-Gruppe.
Der Lautstärkekrieg (Loudness War) hat sich schleichend entwickelt. Das Problem war bereits im Vinyl-Zeitalter präsent, hat sich aber mit Einführung der CD ab 1983 kontinuierlich verschlimmert. Die technischen Limiten der analogen Schallplattentechnologie haben dem Phänomen Grenzen gesetzt, die mit der Digitaltechnik und der Verfügbarkeit von DSP-Prozessoren überwunden wurden. Es erstaunt daher nicht, dass bei Neuveröffentlichungen nicht selten die Vinyl Version besser klingt als der stark komprimierte Master auf der CD. Bei der Dynamik Kompression werden leise und laute Passagen eines Musikstückes einender pegelmässig angeglichen und die Gesamtlautstärke angehoben.
Aufgrund der menschlichen Hörfähigkeit (siehe Fletcher-Munson-Kurve) werden laute Musikstücke intensiver, brillanter, druckvoller empfunden. Die Musikindustrie war und ist der irrigen Meinung, dass die „lauter verkauft sich besser“ Regel höhere Verkaufszahlen verspricht. Besonders beim kurzen Reinhören vor dem Kauf fallen die Mängel nicht auf, das druckvoller empfundene Musikstück kann sich aber gegenüber dem leiseren Konkurrenten abheben. Untersuchungen zeigen auf, dass „loud sells better“ nicht bestätigt werden kann. Hört man dynamikkomprimierte Musikstücke und Alben als Ganzes, fallen die Mängel auf. Das Klangbild wirkt aggressiv, Verzerrungskomponenten nerven, man ermüdet rasch beim Hören. Welchen Verlust an Feinheiten und Klangdetails mit Dynamikkompression einhergehen ist in Hörvergleichen leicht nachvollziehbar (einen Download Link mit Hörbeispielen finden Sie am Ende des Artikels). Der Lautstärkekrieg ist völliger Unsinn und raubt der Musik ein wichtiges Element zum Hörgenuss.
Das Problem verschlimmert sich, wenn die Dynamikkompression noch mit Datenreduktion gekoppelt wird, wie dies zu Beginn des iPod Zeitalters wegen geringen Internet Bandbreiten und knappem Speicherplatz notwendig war. MP3 oder AAC 256kbs reduzieren die bereits dezimierte Detailinformation noch weiter. Zu geringer Headroom, respektive Vollausteuerung des Signals führen bei der MP3 Codierung zu weiteren Verzerrungen. Datenreduktion hat heute keine Berechtigung mehr: Speicherplatz und Internet Bandbreiten sind kein Hindernis mehr Musik in voller (mindestens CD) Qualität zu übertragen und zu speichern. Im Gegenteil: HD-Streaming und Speicherung sind heute kein Problem.
Wenn Neil Young die Seele der Musik zurück haben will, dann ist der erste Schritt hin zu natürlicher Dynamik und somit Schluss mit dem Loudness War! HD-Audio ist dann das Sahnehäubchen obendrauf. Wir mögen es ihm und uns gönnen.
Loudness War ist primär ein Phänomen der kommerziellen Musikkultur im Pop-Bereich. Das Klassik Genre ist davon kaum betroffen, die Jazzer schon eher. Audiophile Label, wie Stockfisch-, Aix- oder Chesky-Records zeigen, wie berauschend natürlich aufgenommene Musik – ohne massive Manipulationen am Mischpult und in der Audio Workstation – über eine gute Wiedergabeanlage klingen kann und wie grauenhaft das Kommerz-Pendant im Vergleich dazu daher kommt.
DR-Werte und Dynamic Range Datenbank
Langsam setzt sich mehr „Dynamik in der Musik ist besser“ auch in der Musikindustrie durch. Doch den Loudness War als beendet zu erklären wäre falsch. Aber das Bewusstsein für die Problematik wächst. Ein Teilgrund für den Lautstärke Krieg war die Forderung der Radio Studios, dass die gespielten Songs eine möglichst gleiche Lautheit aufweisen, damit der Hörer nicht dauernd am Lautstärkeregler seines Radios drehen muss. Streaming Dienste stellen die gleiche Forderung. Dank Computer basierter Wiedergabe lässt sich diese Forderung heute dynamisch zum Wiedergabezeitpunkt erfüllen, auf Dynamikkompression kann verzichtet werden. Stichworte sind: Lautstärkenormalisation und die EBU 128 Richtlinie.
Als Endkonsument kann man sich vor dem Kauf eines Albums informieren, wie stark beim Mastering komprimiert wurde. Einige Fachmagazine, wie Stereo listen bei jeder Album Rezension den DR Wert auf. In der Online Datenbank „Dynamic Range Database“ lassen sich die Werte für viele Alben abrufen.
Die Dynamic Range Database hat bereits über 80‘000 Alben gelistet. Sie zeigt den Dynamikumfang eines Albums als DR– Wert an.
DR Database: http://dr.loudness-war.info/
Ob ein DR Wert als gut, genügend oder ungenügend eingestuft werden muss, ist auch vom Musikgenre abhängig. Mag der Wert „DR6“ für Elektronische Musik durchaus gut sein, müsste der gleiche Wert für eine Klassik-Aufnahme als schlecht gelten.
Die DR Messung erfolgt nach dem EBU R128 Standard und ist nicht mit dem dynamischen Gesamtumfang einer Audiodatei zu verwechseln (Makrodynamik). Gemessen wird nicht der Unterschied zwischen der absolut leisten und lautesten Stelle eines Songs. Es werden nur die lautesten 20% gemessen, um die kritische Verdichtung (Überkompression) zuverlässig darzustellen, die vor allem in lauten Passagen deutlich wird. Wäre das nicht der Fall, würde ein Titel mit leisem Intro und stark überkomprimierten Ende einen unangemessen hohen DR-Wert ergeben. Die DR-Skala dient der vereinfachten und standardisierten Darstellung des Kompressionsgrades einer Veröffentlichung.
Der Dynamikumfang eines Albums dürfte für den Kaufentscheid eine untergeordnete Rolle spielen, zentral bleibt der musikalische Inhalt. Man sollte jedoch unbedingt vermeiden, Alben mit ungenügendem Dynamikumfang zur Beurteilung von High-End-Audio Komponenten zu verwenden.
Dynamic Range Tabelle
Hörbeispiel
Als Hörbeispiel haben wir ein Instrumentalstück aus dem neuen Album der Schweizer Gruppe Emotional Stranges ausgewählt. Das Stück „Perfect Storm“ zeichnet sich durch hohe Dynamik (DR17) aus. Die fein ziselierte Klangaura aus Elektropiano, Bass, Schlagzeug und Gitarre geht mit zunehmender Komprimierung verloren. Sie finden als Download drei je 90 Sekunden lange Sequenzen des Titels als FLAC Dateien:
Track 1: Das Original (DR17)
Track 2: Mittlere Kompression (DR11)
Track 3 Hohe Kompression (DR10)
Track 4: Das Original in voller Länge
Demofiles herunterladen
Zugangs-Code: 12345678
Nach dem Download das Zip-Archiv entpacken und die Dateien auf einen Music Server kopieren. Hinweis: Die Werte für Laustärkenormalisierung sind in den Metadaten hinterlegt.
Die Signalwellenform von „Perfect Storm“. Die drei Sequenzen zeigen jeweils die ersten 90 Sekunden des Musikstücks mit zunehmender Komprimierung. Die abnehmende Dynamik ist am Beginn des Stückes (Intro – s0 bis s25) besonders deutlich sichtbar.
Mehr Informationen zur Gruppe Emotional Strangers, die im Kern aus den drei Top-Musikern Walter und Peter Keiser sowie dem Engländer Andy Wright besteht, finden Sie auf www.emotionalstrangers.com
Das Album ist in unserem Webshop als DeLuxe Version für CHF 29.- erhältlich. Das von den Musikern signierte Album besteht aus einer 180gr Vinyl-LP, einer CD und einem Gutschein für den HD-Download.
Emotional Strangers Bundle mit Schallplatte
CD und HD-Download
Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema befassen möchten, empfehle ich den Vortrag (youtube) von Friedemann Tischmeyer (Deutsch 19:47) https://www.youtube.com/watch?v=bsIKSSyWbR0
Loudness War (Englisch 3:36) https://www.youtube.com/watch?v=dcKDMBuGodU
Fussnoten:
*Pono Projekt: Pono Player und Musik Download Store (www.ponomusic.com)