Digital-Vinyl. Die epochalen Umwälzungen in der Musikbranche.

Erstellt von:
30 Mai 2016
In Blog
3.405 AUFRUFE

Die IFPI (International Federation of the Phonographic Industry) hat in ihrem Global Music Report 2016 zum ersten Mal seit 20 Jahren für 2015 ein Umsatzwachstum rapportiert. Für die Trendumkehr sorgte die Zunahme bei den Streaming Diensten, welche die Verkäufe von physischen Medien nun überflügelt hat. Weltweit wird mit dem Musikgenuss ab Speicher ein Umsatz von 15 Milliarden USD erzielt. Die physischen Medien sind auf 39% Umsatzanteil geschrumpft, trotz Zuwachsraten von über 30% bei den Vinyl Verkäufen. Die rund 3% Vinyl Marktanteil können den CD-Krebsgang nicht kompensieren.

Bemerkenswert sind die Zahlen zum Deutschen Markt, die sich atypisch verhalten und noch immer einen Anteil von über 60% für physische Medien ausweisen. Dafür liegt Deutschland mit einem Streaming Anteil von 11% deutlich unter den rund 20% der Nachbarländer. Die Schweiz liegt mit 51% Anteil bei physischen Medien und 18% bei Streaming im Mittelfeld. Interessant sind auch die Zahlen zu den Vinyl Käufern. Diese setzen sich primär aus den Altersgruppen 20 bis 39 Jahre und 50 bis 59 Jahre zusammen. Die Jahrgänge zwischen diesen Blöcken bevorzugen den bezahlten Download von Musikdateien.

ifpi-chart

Bild 1: Die Digitalisierung (trägerlose Distribution von Musik) hat die Musikindustrie nachhaltig getroffen. Piraterie (Tauschbörsen), der schrittweise Rückgang der physischen Tonträger und die wachsende Nachfrage nach digitalen Musikformaten zwangen die Musikfirmen neue Absatzformen und Vertriebskanäle zu etablieren. Die Industrie hat sich in den letzten Jahren neu aufgestellt und mit innovativen Konzepten auf die veränderte Marktsituation reagiert. Fazit: es geht wieder aufwärts.  Quelle/Bild: Bundesverband Musikindustrie (D). Grösser = auf Bild klicken

Die Gegensätze sind im Trend – respektive, an den Polen geht es heiss zu und her

Vinyl und Streaming verzeichnen die prozentual grossen Zuwachsraten. CDs und Downloads sind leicht rückläufig. Vinyl und Streaming könnten nicht gegensätzlicher sein: das Prinzip der  mechanischen Schallspeicherung aus dem 19. Jahrhundert, verbunden mit dem zwingenden Besitz eines physischen Trägers steht dem besitzlosen Musikhören des 21. Jahrhunderts gegenüber. Ein Streaming Abo ermöglicht den Zugriff auf Millionen Titel mit den unterschiedlichsten Geräten an dem Ort wo sich der Abonnent gerade befindet. Die Qualität kann von grässlich datenreduziert bis hin zu subtilem HD-Audio reichen. Vinyl dagegen ist nicht nur ortsgebunden, sondern sogar raumgebunden – es sei denn man leistet sich mehrere Anlagen und trägt die Platten im Haus umher. Die klangliche Überlegenheit der analogen Schallplatte ist mehr subjektive Präferenz und Mythos als Realität.

Wenn Streaming für zappenden Musikkonsum und mühseliges Suchen im Angebotsdschungel steht, ist Vinyl das Paradebeispiel für Entschleunigung in einer hyperaktiven Welt. Die Prozedur rund um die Platte mit der heiklen Handhabung  und den sorgfältigen Pflegemassnahmen lässt nur ein behutsames, bewusstes Vorgehen und Hören zu – zumindest für die ca. 20 Minuten einer Plattenseite. Erwartet der Streaming Kunde Geräte die zickenfrei funktionieren, mit konstanter Qualität von Anfang bis Ende, ist der Plattenliebhaber bereit immer wieder an der fragilen Plattentechnik zu feilen und zu schrauben, bis sich die gewünschte Klangaura einstellt. Intensives Auseinandersetzen mit dem Objekt Vinyl steht Hintergrundberieselung mit automatisch generierten Playlisten gegenüber. Diese Charakterisierung mag zugespitzt sein, denn auch Zwischenstufen sind real.

Die Synthese: Digital-Vinyl

Aus diesen Gegensätzen scheint sich nun eine Synthese zu entwickeln: Vinyl auf CD oder als Download. Oder man digitalisiert seine LP Sammlung gleich selbst und befreit somit den Vinyl-Klang von seiner Immobilität. Das Label Stockfisch begann 2013 seine digitalen Produktionen mit einer Vinyl Klangaura zu „veredeln“. Dies wird mit einem analogen Zwischenschritt mittels einer Neumann Plattenschneidmaschine realisiert. Auch Audio Fachzeitschriften nehmen sich dem Thema an und veröffentlichen digitale Produktionen als LP – was weder aussergewöhnlich noch spektakulär ist. Beachtenswert ist vielmehr die Umkehrung, indem man den Vinylklang auf einem digitalen Träger auf das Heftcover klebt oder als CD/SACD zu einem moderaten Preis veröffentlicht. Man attestiert dem digitalen Pendant, als Hochbit-Datei oder in profaner CD-Auflösung, den Klangcharakter des analogen Mediums überzeugend und intakt transportieren zu können!

Clever: Vinylklang verbunden mit der Vielseitigkeit des digitalen Ökosystems. Aber funktioniert das klanglich? Ja – sagen die Redaktoren mehrerer Fachzeitschriften, ja sagt Tonmeister Günter Pauler. Ja sagt der Autor diese Blogbeitrages.

Diese Aussage rüttelt nun heftig an digitalen und analogen Mythen, die wir auf Sinngehalt prüfen wollen:

Digital Mythos:
Digital Audio klingt kühl und harsch, weil die Informationen zwischen den Abstastintervallen (Samples) nicht erfasst werden und das analoge Signal nach der D/A-Wandlung treppenförmig ist.

Analog Mythos:
Das analoge Signal ist zeitkontinuierlich und hat daher eine unendliche Auflösung und hat somit immer mehr Informationen als jedes digitale Signal. Analog klingt immer warm und musikalisch und hat mehr Emotionen.

Diese weit verbreiteten Ansichten halten einer genauen Prüfung allerdings nicht stand. Real ist:

Digital: Das analoge Signal wird bei der D/A-Wandlung komplett rekonstruiert. Auch die Information zwischen den Sampels wird wiederhergestellt. Der oft in Grafiken dargestellte treppenförmige Signalverlauf bei der D/A-Wandlung, ist lediglich eine Zwischenstufe bei der Rekonstruktion des analogen Signals. Das Signal am Ausgang des Wandlers hat weder Treppen noch fehlt die Information zwischen den Abtastwerten. Detailinformationen dazu finden Sie im Blogbeitrag Digital Basics.

Analog: Analoge Signale haben die gleichen Limitierungen wie digitale Signale: Rauschen und Bandbreite. Das analoge Rauschen limitiert die Amplitude, respektive Dynamik und somit die Fähigkeit kleinste Signalpegeländerungen zu reproduzieren. In der Digitaltechnik entspricht dies dem Quantisierungsrauschen (Quantisierungsverzerrungen [Wortlänge in Bit]). Die Bandbreite (höchste zulässige oder reproduzierbare Signalfrequenz ist in der Analogtechnik durch die Gerätetechnik (Bandmaschine/Tonband, Mikrophone, Rillengeometrie, Drehzahl) begrenzt, reicht aber bei den besten Geräten über den hörbaren Bereich von 20kHz hinaus. Bei der Digitaltechnik definiert die Samplingfrequenz [kHz]die zulässige Höchstfrequenz (fs/2). Ein analoges Signal von 20Hz bis 20kHz hat die gleiche Auflösung wie ein digitales Signal mit einer Samplingfrequenz von 40kHz. Die klanglichen Unterschiede zwischen den Speicherformaten haben andere Gründe. Der kontinuierliche, analoge Signalverlauf wird fälschlicherweise als Auflösung interpretiert. Die Auflösung wird aber durch Bandbreite (Frequenzumfang) und Dynamik (Dynamikumfang) bestimmt und nicht durch das Kriterium ob der Signalverlauf zeitkontinuierlich (analog) oder zeitdiskret (digital) ist.

Ein Audio System lässt sich mit folgenden vier Parametern beschreiben:

Parameter Anmerkungen
Frequenzgang Frequenzumfang und Linearität
Rauschen Kriterium für Dynamik (Unterschied laut/leise). Analoges oder digitales Rauschen, eigenrauschen der Bauteile
Verzerrungen Harmonische-, Intermodulations-, Übernahmeverzerrungen
Fehler im Zeitbereich Gleichlaufschwankungen (analog), Jitter (digital)

Dank der bei Stockfisch Records in der zweiten Ausgabe erschienen DMM CD/SACD lässt sich ein Vergleich der beiden Speichermethoden analog und digital fundiert nachvollziehen – technisch und gehörmässig. Diese „Vinyl-CD/SACD“ haben wir im letzten Blogbeitrag bereits vorgestellt

Hier der Stockfisch DMM-CD/SACD Produktionsprozess:

dmm-prozess

Bild 2: Der digitalen Aufnahme des Musikstückes auf Harddisk folgt ein analoger Zwischenschritt und die erneute Digitalisierung und Produktion des Trägers. Grösser = auf Bild klicken

Stufe 1: Die Aufnahme wurde im digitalen Format erstellt und ist die Ausgangslage. Wie genau die Aufnahme deckungsgleich mit dem akustischen Original ist definiert diese erste Stufe (im Sinne von nichts hinzugefügt und nichts weggelassen – akkurate Umwandlung der Schalldruckschwankungen in ein elektrisches Signal und dessen fehlerfreie Speicherung).

Stufe 2: Nach der analogen Zwischenstufe über die Neumann Schneidmaschine und nachfolgender Abtastung werden dem Klang analoge Attribute zugeschrieben (Zitat Fachzeitschrift STEREO: natürlicher, sonorer, emotioneller). Es ist ein klanglicher Unterschied zur ersten Stufe entstanden.

Stufe 3: Diese analogen Klangeigenschaften werden über ein digitales Format und Träger transportiert und folglich dem digitalen Audiosignal analoge Eigenschaften attestiert. Somit: die analogen Klangmerkmale sind nach der erneuten Digitalisierung immer noch vorhanden.

Die Veränderungen von Stufe 1 zu Stufe 2 sind in Adobe Audition sichtbar:

cd-spread-141-fi

Bild 3: Für den Vergleich wurde das Musikstück  Tremors der Gruppe Ranagri bei Minute 1:41 herangezogen. Die grüne Kurve ist das digitale Signal der Stufe 1. Rot ist der Signalverlauf der DMM Stufe 2, der vom Original abweicht. Die Abbildung zeigt ein Zeitfenster von 15 Millisekunden von Minute 1:40:990 bis 1:41:005. Der rechte Bildteil analysiert die Phasenbeziehung zwischen dem linken (oben) und rechten (unten) Kanal (rot = DMM Stufe 2, weiss = Stufe1). Somit ist klar, die DMM Variante klingt anders als das Ausgangssignal der Stufe 1. Grösser = auf Bild klicken

Das nächste Audition Bild zeigt den Signalverlauf (Hüllkurve) in starker zeitlicher Dehnung – die Schallplattenrille hat übrigens genau diesen Verlauf. Die Punkte stellen die digitalen Samples dar. Diese sind bei 44.1 kHz Samplingfrequenz (CD) 22.6 μs (Mikrosekunden) auseinander. Das Fenster bildet eine Zeitdauer von 1.4 ms (Millisekunden) ab. Man sieht weder einen treppenförmigen Signalverlauf noch Löcher zwischen den Abtastwerten. Die Zwischenwerte sind auch keine Geraden, wie gelegentlich angenommen wird.

cd-strech-fi1l-sample

Bild 4: Der Signalverlauf des Musikstückes bei Minute 1:41 in nochmaliger zeitlicher Dehnung. Das Fenster zeigt nun einen Ausschnitt von 1.4 Millisekunden. Es wird nur der DMM Signalverlauf des linken Kanals (rot) dargestellt. Anhand des Signalverlaufs des rechten Kanals (grün/unten) kann die Aussage überprüft werden, dass anhand der digitalen Samples das analoge Signal genau rekonstruiert werden kann. Es hat weder Kanten noch Löcher und die Punkte wurden nicht durch gerade Linien verbunden. Grösser = auf Bild klicken

dmm-cd-intro-21

Bild 5: Die ersten rund 220 Millisekunden des Stückes Tremors, das mit dem Einsatz der Flöte beginnt. Linker Bildteil = DMM, rechter Bildteil die digitale Datei. Die Wellenlinie vor dem Stückbeginn im DMM Bildteil ist das Plattenrumpeln/rauschen. Der blau umrandete Bereich kennzeichnet den vergrösserten Ausschnitt von Bild 7. Grösser = auf Bild klicken

dmm-cd-intro-2-spectra

Bild 6: Die Spektralanalyse von Bild 5 zeigt die Rumpel- und Rauschanteile im DMM Signal. Man muss sich bewusst sein, diese analogen Eigenschaften zeigt uns eine digitale Datei, das ist keine Messung eines analogen Signals. Womit die Aussage erhärtet ist, dass das digitale Format die analoge Klangaura abbilden und transportieren kann. Grösser = auf Bild klicken

cd-dmm-intro-4-fin

Bild 7 zeigt den blau umrandeten Signalbereich in Bild 4. Der Ausschnitt erfasst einen Zeitbereich von 6.3 Millisekunden am Stückbeginn und bildet das kritische Kleinsignalverhalten der beiden Formate in der Region von -45dB ab. Die rote DMM Kurve des rechten Kanals (unten) ist zur besseren Vergleichbarkeit der Hüllkurven versetzt zur Nulllinie dargestellt. Grösser = auf Bild klicken

Was folgern wir daraus? Das digitale Format kann die Klangeigenschaften des analogen Mediums reproduzieren. Das analoge Medium kann die Klangeigenschaften des digitalen Mediums von Stufe 1 nicht erhalten. Nach dem Schneidevorgang klingt es nicht mehr gleich wie vorher.

Der analoge Produktionsschritt verändert das Signal auf der Zeit- und Pegelachse und beeinflusst die Signalwellenform. Dies ergibt den typischen Vinyl Klang, wie ihn Stockfisch Records beschreibt und sucht. Wie nun diese Veränderungen gehörmässig bewertet werden hängt vom Standpunkt des Kritikers ab. Bei Klangbeschreibungen bedient man sich bipolarer Wortpaare (warm – kalt), denen je nach Bezugsachse positive oder negative Attribute zugeordnet werden:

hoerer-typ

Bild 8: Die Beschreibung von Höreindrücken ist immer vom eigenen Standpunkt geprägt. Je weniger ein Hörer ein technisch fundiertes Wissen hat, an dem er sich orientieren kann, desto mehr driften Urteile und Beschreibungen ins anekdotische und fabulierende ab. Grösser = auf Bild klicken

Der Stockfisch DMM-CD Prozess findet quasi unter Laborbedingungen statt, da sofort nach dem Schnitt wieder abgetastet wird. Qualitätssteigernd sind die höhere Drehzahl von 45 U/m und der Umstand, dass die Metallfolie nur innerhalb der beiden Nulldurchgänge des 12 Zoll Tonarms genutzt wird. Dies hält den Tangensfehler in engeren Grenzen. Die Nachteile der gepressten Schallplatte sind so nicht vorhanden, da keine Verluste durch Galvanisierung, Pressung, Seiten- und Höhenschlag anfallen. Was auch auffällt: Vinyl hat deutlich mehr Mühe bei komplexen Klängen, besonders gegen Plattenende, da die Auflösung auf Grund des abnehmenden Rillenradius kontinuierlich sinkt. Was besonders bei Klassik Aufnahmen hörbar ist.

Fazit: Der Audio Software Markt fragmentiert sich weiter. Die DMM-CD ist eine weitere interessante Facette. Die Streaming Dominanz im Massenmarkt wird Tatsache werden. Physische Medien werden weiter an Marktanteil verlieren und sich langfristig vor allem in der Nische der engagierten Musikliebhaber oder Traditionalisten  halten. Das Vinyl Segment dürfte bei den Jungen eher ein vorübergehender Modetrend sein. Nur die Kategorie der heute Ü50, die wie der Autor mit der LP aufgewachsen sind und den Klang mit der Muttermilch mitbekommen haben, werden nachhaltige Vinyl Käufer sein. Zumindest die, die den Sprung zu Audio 3.0 nicht machen wollen oder können. Downloads dürften auf moderatem Niveau verharren, denn der Sammler will besitzen, will seine Sammlung kuratieren.

Anmerkungen
  1. DMM-CD/SACD Vergleich:
    1. Titel: Tremors, Band: Ranagri, Album: Fort of the Hare, Label: Stockfisch
    2. Da von der CD/SACD nur der CD Layer ripbar ist, wurde die zum Vergleich herangezogene 24/96 Datei auf 16/44.1 runter gerechnet.
    3. Die DMM-CD/SACD ist 3.06 dB leiser als der HD-Download des Vergleichsstücks.
    4. Der Pegel der Vinyl Datei wurde um 1dB angehoben, die digitale Datei um 2.06dB im Pegel reduziert.
    5. Das Signal der DMM-CD/SACD ist gegenüber der digitalen HD-Variante des Stückes invertiert. Die für den Vergleich korrekte Signallage wurde durch vertikale Spiegelung des roten Signalverlaufs im Photoshop hergestellt anstelle der Adobe Audition Umkehrfunktion (Inverter).
  2. Quellen für den Bezug von Vinyl auf CD im Handel oder:
    1. Die DDM-CD/SACD sind bei Stockfische Records stockfisch-records.de erhältlich
    2. Das Magazin STEREO bietet zahlreiche Hörtest LPs und CDs und digitalisierte LPs an: stereo-shop.de
    3. Die Stereoplay Ausgabe 6/2016 bietet dem Leser eine von Lothar Brandt zusammengestellte und betreute professionelle Überspielung von LPs durch den Tacet-Chef Andreas Speer (Vinyl Classic Vol.3) als Heftbonus an. Achtung das Heft ist noch bis ca. 9. Juni 2016 im Zeitschriftenhandel verfügbar. Nachbestellungen über streoplay.de
  3. IFPI Quellmaterial:
    1. Deutschland: musikindustrie.de
    2. Schweiz: www.ifpi.ch
    3. Global: www.ifpi.org http://ifpi.org/global-statistics.ph