Haut mehr rein! Vinyl-Boxsets kritisch betrachtet

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4 Oktober 2016
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Wir freuen uns, Ihnen einen Gastbeitrag vom Vinyl Experten und sehr geschätzten Fachjournalisten Lothar Brandt präsentieren zu dürfen.

Reihenweise veröffentlichen die Schallplattenfirmen edle LP-Boxen. Doch manche erweisen sich als aussen hui, innen pfui. Sie enttäuschen editorisch, manchmal auch klanglich. Eine der Schattenseiten des so genannten Vinylbooms.

Der Autor ist bekennender Vinylfan. Wenn auch kein ideologisch verbohrter. Seine Musiksammlung umfasst neben einigen Langspielplatten auch CDs. Und die technischen Grenzen der analogen Technik sind ihm genauso bewusst wie die klanglichen Defizite so mancher Digital-Produktion. Natürlich freut er sich wie andere auch am wiedererstarkten Interesse an LPs, an der zunehmenden Flut an Neu- und Wiederveröffentlichungen. Auch wenn er im Gegensatz zu manch anderem nur ungern von „Boom“ spricht. Der Marktanteil der schwarzen Scheiben bleibt auch in der Schweiz im einstelligen Prozentbereich, die Vinyle kosten ja auch zum Teil recht stolze Preise. So genannte Box-Sets, also mehrere Platten gebündelt, marschieren da voran. Um so ärgerlicher, wenn gerade diese Editionen aber keinen wirklichen Mehrwert bieten.

Boxen-Sets in prachtvoller Aufmachung

Es macht ja Freude, wenn schöne Box-Sets mit vielen LPs drin neu auf den Markt kommen. Es macht aber keine Freude, wenn in einer fetten Aussenhülle nur editorischer Magerquark geboten ist. Solche Sets wie Eric Claptons 70er-Jahre Recycling „The Studio Album Collection“ und „The Live Album Collection“ können einem schon den Spass verderben. In einer zugegeben schönen Schatulle stecken nur die Originalalben. Beim Herausnehmen stellt man fest: Kein Extra-Booklet, was der Bedeutung dieses Künstlers durchaus angemessen wäre. Kein Extra-Album mit weiterem zeitgenössischen Studio- oder dann eben Live-Material. Und sage keiner, das gäbe es nicht – das gibt es zuhauf.

Es muss sich ja nicht wie bei CDs üblich als Bonustracks mit auf die LPs quetschen. Aber wie wäre es mit einer Extra-Scheibe mit Raritäten, die man nicht überall für 2,50 Franken nachgeworfen bekommt? Zu allem Über– pardon: Unterfluss stellt man beim Abspielen der neu gepressten Scheiben auch noch fest: Sie klingen schlapper als die ollen Kamellen, manchmal sogar schlechter als die CDs.

Im Abhörraum der Zeitschrift AUDIO, für die der Autor unter anderem monatlich Langspielplatten bespricht, stehen als unbestechliche Abhör-Monitore die Bowers & Wilkins 802 D3. Zu manchen Hardware-Tests nimmt der Schreiber dieser Zeilen nur zu gerne auch solche Klangsünder, ihre betagten Vorgänger aus der eigenen Sammlung sowie eben gute oder schlechte CD-Remaster mit. Was ihm schon zu Hause die Zornesröte ins Gesicht trieb, bestätigt sich dann im Hörraum der Kollegen.

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Etwa mit der „Vinyl Collection“ von Deep Purple. Die LPs tönten so mies, als seien sie von mp3-Mastern gezogen. Und die Auswahl der Alben deckte weder einen Zeitraum noch eine Besetzung ab. Zugaben: Fehlanzeige. Das bringt’s einfach nicht. Bei Clapton fällt der Klangvergleich zu alten Pressungen ebenfalls verheerend aus. Was nützt es denn, wenn der Hersteller stolz mit 180 Gramm Pressgewicht pro Scheibe protzt, aber der Sound viel dünner ausfällt als auf alten Leichtpressungen?

Es drängt sich der Verdacht auf, dass manche Wiederverwerter einfach nur den schnellen Reibach suchen. Da wird drittklassiges Master-Material ins Presswerk geschickt, dort hat wegen der überbordenden Aufträge ohnehin keiner Zeit. Deshalb übernimmt Kollege Computer, eingestellt auf maximale Sicherheit, das Mastern (das Überspielen auf Lackfolie oder bei Direct Metal Mastering in die Kupfer-Matrize heisst auch Mastering). Um die kostbaren Schneidstichel zu schonen, wird die Dynamik und der Höhenanteil „vorsichtshalber“ zurückgenommen. Kein Wunder, dass da manchmal nur Minderwertiges herauskommt.

Es geht auch anders. Sinnvolle Reissues ermöglichen erstaunliche Klangerfahrungen

Es muss ja nicht viel Mehrwert sein. Kein überteuerter Schnickschnack wie jüngst bei Metallica, aber den Käufer ergötzender Mehrwert. Bei Steve Hacketts „The Charisma Years“ gab’s immerhin noch unveröffentlichtes Live-Material auf separaten Scheiben – akzeptiert. Zumal die Klangqualität zumindest nicht abfällt gegenüber Original-Ausgaben. Warner hat „The Atlantic Years – in Mono“ des Jahrhundert-Saxofonisten John Coltrane aufgewertet mit einem nicht umfangreichen, aber schönen Extra-Booklet und einer Single. Übrigens ein lustiger „Nebeneffekt“ der zunehmenden Vinyl-Nachfrage: Mono-Reissues.

Da erfreut jetzt etwa von Little Richard die „Mono Box – The Complete Speciality And VeeJay-Albums“. Keine Frage, die frühen Jahre des Pop waren monaural – und sie gehörten den Singles. Der Longplayer als das beherrschende Format der Rockmusik etablierte sich erst so ab 1967. Vorher war es so wie heute im Download- und Streaming-Zeitalter: Die Geduld (und damals auch das Geld) der meisten Fans reichte maximal für einen Song. Zu Zeiten, als Richard Penniman seine ersten Hits landete, war die Schellack- beziehungsweise Vinyl-Single das Medium der Wahl. Im Mittelwellenrundfunk mit beschränktem Frequenz- und Dynamikumfang verbreitet, von rustikalen Plattenfräsen in den Teenager-Zimmern abgehobelt, alles natürlich in Mono. Insofern ist es konsequent, auch die Longplayer aus jener Zeit – meistens Single-Aufnahmen plus mehr oder weniger viel Füllmaterial – im vermeintlich authentischen Einkanal-Sound wieder zu veröffentlichen. Mit heutigen Mitteln überspielt, hergestellt und abgespielt kommt man glücklicherweise freilich nicht mehr in den „Genuss“ prasselnder, dumpfer, quasi dynamik- und bassfreier Klänge wie weiland aus dem Dampfradio oder aus der Rumpelkammer genannt Record Player. Sondern man kann ganz erstaunliche Streifzüge durch vergangene Zeit starten.

Mixed Emotions – von Allem was drin

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Im Falle des gar nicht so kleinen Richard (kolportierte Körperlänge: 177 Zentimeter, in seiner Eigensicht wohl eher ins Unendliche strebend) und der fünf LPs starken „Mono Box“  sind das kompromisslose, erstklassige Rock’n’Roll-Songs. Teilweise in mehreren Versionen, aufgenommen zwischen 1955 und 1964 und aufgefüllt mit erstaunlich wenigem Zweitklassigem. Sie prangen zwar mit dem Aufdruck „High Fidelity“ auf dem Cover, tönen aber im „authentischen“, etwas mittelwelligem, aber erstaunlich unverzerrtem Mono. HiFi darf man aber bitte nicht erwarten, die teilweise überragend klingenden Jazz- oder gar Klassik-Produktionen dieser Ära wurden unter ganz anderen Voraussetzungen geschaffen.

Doch die Herausgeber leisten sich einen Riesenbock: Auf dem im Set enthaltenen Sampler „His Greatest Hits“ prangt auf dem Cover in der Mitte oben „Stereo“ und die abgedruckte Bestellnummer VJS-1124 ist die Bestellnummer der Stereo-Version. Das lässt Erinnerungen an übelst verhunzte, elektronisch auf Stereo getrimmte 1950er Jahre Pop-Aufnahmen hochkommen. Aber Teil-Entwarnung: Es sind die Re-Recordings nach Richards’ Rückkehr zu Vee-Jay anno 1964. Und hier zudem mono überspielt. Also: bitte etwas mehr Sorgfalt beim Editieren!

Die Pressungen – heute werden auch Mono-Scheiben mit Stereo-präparierten Schneidköpfen überspielt – sind aussergewöhnlich laufruhig, die Cover-Reproduktionen noch gut. Und das beigegebene Booklet schaut man sich gerne an – sogar die Lektüre lohnt sich. Also, stellt man fest: Es geht doch. Warten wir mal gespannt auf angekündigte die Mono-Box der Rolling Stones.

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Auch im Falle von Ray Charles’ „The Atlantic Years in Mono“ fällt das Urteil milde, aber nicht uneingeschränkt positiv aus. Sieben der Longplayer für Atlantic Records, der damals noch auf schwarze Musik spezialisierten Firma, hat Warner jetzt in dieser Box zusammengefasst. Es sind aber nicht alle Aufnahmen, die Charles für das Label machte, die unverzichtbaren Live-Mitschnitte aus Newport 1958 und Atlanta 1959 etwa muss man sich dann eben noch separat besorgen. Doch das Box-Set ist nach so einigen editorischen Enttäuschungen anderer Interpreten mal wieder ein Lichtblick. Das Booklet mit einem lesenswerten amerikanischen Text von David Ritz (Koautor des Biopics Brother Ray) beeindruckt auch mit detaillierten Angaben zu den Einzeltiteln. Viele weitere Informationen bieten die dank ordentlicher Reproduktion gut lesbaren Cover-Rückseiten. Die in Hochglanz gedruckten Fronten gehen so durch. Jede der LPs schmückt sich mit dem Aufdruck „High Fidelity“ beziehungsweise „Full Dynamics Frequency Spectrum“. Das ist allerdings relativ zu sehen, die Klangqualität schwankt dann doch auch innerhalb der LPs je nach Aufnahmedatum recht stark. Insgesamt geriet das Mono-Mastering von John Webber in den Air Studios druckvoll und erstaunlich bassstark. Bei „The Genius Sings The Blues“ kommt die neue Scheibe gegenüber der betagten MFSL-LP merklich entbrummt und mit präsenterer Stimme. Die ordentlich gepressten Scheiben stecken indes nur in ungefütterten Papierhüllen. Also auch hier: Defizite, die angesichts des aufgerufenen Preises nicht sein müssen. Und die Beispiele gehen nicht aus.

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Free zählten 1968 bis 1971 und dann nochmal kurz 1972 zu den besten, dank ihres Megahits „All Right Now“ kurzfristig zu den grössten Bands des britischen Bluesrocks. Ihr Schaffen auf LPs hat Universal jetzt zu einer schmucken Box vereint. Aber warum, um alles in der Welt, ist da auf der Rückseite ein falsches Cover abgedruckt: „Live“ (ein zweites Mal) statt dem von „Fire And Water“. Die Galle steigt höher, weil leider alles würdige Beiwerk wie ein Extrabooklet oder eine Scheibe mit Single-Mixes und ähnlich musikhistorisch Wertvollem fehlt. Alles liegt ja in der 5-CD-Box „Songs Of Yesterday“ oder auf den CD-Remastern reichlich vor. Dafür tütet die Box alle einzeln zellophanierten LPs ins originale Artwork, sogar die auf verschiedenen Spielstätten eingesammelte Live-LP steckt im aufwendigen „Brief“-Cover.

Hin- und hergerissen zwischen Lob und Verriss fällt dann der Klangvergleich wenigstens gut aus: Die dem Autor vorliegenden alten deutschen Island-Nachpressungen aus den 1970ern tönen leicht dumpfer mit etwas verschleierter Stimme und niedrigerem Pegel. Für die 2001 remasterten CDs hatte von Peter Mew in den Abbey Road Studios die Höhen deutlich angehoben, das klingt auf den nun von Andy Pearce betreuten LP-Remaster wieder runder.

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Ordentlicher Klang und saubere Cover-Reproduktionen zeichnen auch „The Philips Years“ der grossartigen Nina Simone aus. Doch ein dieser Künstlerin und ihrem Rang angemessene Dokumentation oder gar Bonus-Material sucht der Fan vergeblich.

Warum aber bekommt man für sein Geld nicht alles: aufwendige, fehlerfreie Edition plus besserer Klang?

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Das fragt sich der Fan schliesslich auch bei der „Studio Collection“ von Sting. Warum bitte hat A&M diese gewichtige Edition eines ihrer umsatzstärksten Künstler nicht mit einem manierlichen Booklet ausgestattet? Dass im Set die „klassischen“ Gehversuche „A Winter‘s Tale“ und „Songs From A Labyrinth“ sowie Sampler wie „At The Movies“ oder „All This Time“ mit ihrem teils gesuchten Material fehlen, wird man noch verschmerzen können. Doch einen so multiaktiven Künstler „nur“ über die acht Studioalben abzufeiern, erscheint doch etwas knauserig. Und dann der Klang. Zwar bei weitem nicht so schlimm wie bei Clapton oder Deep Purple. Doch die Überspieler haben wieder wohl aus Angst um die Schneidstichel manchmal den Höhenanteil, manchmal die Dynamik leicht reduziert.

Dieser Geiz ist nicht geil. Der Konsument erwartet zu recht mehr Inhalt in edler Verpackung: Mehr Klang, mehr editorische Sorgfalt, mehr Ausstattung. Wenn also gerade – Weihnachten steht vor der Tür – die nächsten Vinyl-Editionen geplant sind, liebe Plattenfirmen: Haut mehr rein.

Clapton Live Box Set-Exploded packshot